Einleitung

Seit 1970 hat sich das Sozialprodukt der Bundesrepublik, also die Summe aller produzierten Waren und Dienstleistungen, mehr als verdoppelt. Aber aus nur wenigen Arbeitslosen 1970 wurden bis 2002 mehr als vier Millionen (in Gesamtdeutschland). 1970 gab es knapp 1,5 Millionen Sozialhilfeempfänger, im Jahre 2000 waren es in Gesamtdeutschland mehr als 4,5 Millionen. Was ist das für eine Wirtschaft, in der die Verdopplung des Wirtschaftsertrags Armut in die Gesellschaft bringt?

Inzwischen hat die Krise den Mittelstand erreicht, wird der Ruf nach »Reformen« immer lauter. Doch welche Reformen? Unverdrossen werden in allen wirtschaftspolitischen Debatten der Bundesrepublik, in Fernseh-Talkshows und den Artikeln der Wirtschaftsjournalisten der großen Zeitungen dieselben Rezepte angeboten. Wachstum steigern, Konjunktur ankurbeln, dazu den Gürtel enger schnallen, Lohnsenkungen, Aufhebung des Kündigungsschutzes, Beseitigung aller Handelshemmnisse und Entlastung der Unternehmen von Steuern und Abgaben. Politik also wie jetzt schon seit einem Vierteljahrhundert, nur noch konsequenter, radikaler.

Einen Arzt, der seinem Patienten mehr als 20 Jahre dieselben Pillen verschreibt, obwohl sich die Symptome verschlechtern, sollte man wechseln. Auch die kränkende Wirtschaft braucht zunächst einmal eine neue Diagnose.

In zehn Jahren haben sich genügend »harte Fakten« angesammelt, die Aufschluss darüber geben können, wie sich - in Deutschland, anderen europäischen Staaten oder der Weltwirtschaft - die Patentrezepte einer ungehemmten Liberalisierung ausgewirkt haben. Neben unzweifelhaften wirtschaftlichen Fortschritten vieler Länder durch ihre Öffnung zum Weltmarkt zeigten sich immer stärker auch negative, ja katastrophale Folgen. Wirtschaftsexperten wie der Nobelpreisträger und frühere Chefvolkswirt und Vizepräsident der Weltbank, Joseph Stiglitz, oder George Soros beschrieben die Ursachen dieser verheerenden Folgen der Liberalisierungspolitik auf die Weltwirtschaft und insbesondere die Entwicklungsländer.

Was bewirkte die Öffnung des Weitmarkts seit Mitte der 70er Jahre also tatsächlich? Führte sie zu einer neuen Steigerung des Welthandels? Beschleunigte die neue Form der Weitwirtschaft die Zunahme der insgesamt in der Welt produzierten Güter und Dienstleistungen, des Weltsozialprodukts also? Und noch wichtiger: Hielt die Zunahme des Weltsozialprodukts Schritt mit der Bevölkerungszunahme, nahm also das Weltsozialprodukt pro Kopf in der »neoliberalistischen Phase« der Weltwirtschaft von 1973 bis zum Jahr 2000 zu? Und wie wirkte sich diese neue Form der Weltwirtschaft auf den Wohlstand der Menschen in der Welt aus? Kommt neu entstehender Wohlstand auch bei den unteren Schichten an, oder verschärft ungeregelter Freihandel weltweit die Ungleichheiten und destabilisiert so die Weltgesellschaft?

Brauchen wir deshalb möglicherweise eine andere Wirtschaftsordnung, um eine neue Welt-Unordnung zu vermeiden, und gibt es dafür erfolgversprechende Modelle? Kann es weitwirtschaftlich überhaupt eine einheitliche Lösung für alle geben, wie es uns die Liberalisierungstheoretiker seit Jahren glauben machen, und welche Rolle muss der vielgeschmähte Staat spielen, damit Wirtschaft den Interessen aller dient?

Die wirtschaftliche Krise der Bundesrepublik und der meisten anderen EU-Staaten ist naturgemäß ein Schwerpunkt des Buches. Wie hat sich die Entwicklung der Weitwirtschaft auf die Bundesrepublik ausgewirkt?

»Maßstab und Richter über Gut und Böse der Wirtschaftspolitik sind nicht Dogmen oder Gruppenstandpunkte, sondern ist ausschließlich der Mensch, der Verbraucher, das Volk. Eine Wirtschaftspolitik ist nur dann und nur so lange für gut zu erachten, als sie den Menschen schlechthin zum Nutzen und Segen gereicht«, können die Anhänger der sozialen Marktwirtschaft bereits bei Ludwig Erhard nachlesen. Dass diese Wirtschaft nicht nur wenigen dient, sondern »Wohlstand für alle« schaffen soll, ist nicht nur der Titel von Erhards Buch, sondern geradezu das Markenzeichen der sozialen Marktwirtschaft, des »rheinischen Kapitalismus«, wie man in Frankreich sagt. Ein Staat wird deshalb nicht dadurch ein Sozialstaat im Sinne Erhards, dass er verhindert, dass viele Menschen verhungern oder auf den Straßen erfrieren. Soziale Marktwirtschaft im Sinne Erhards fordert vielmehr, dass die erwirtschafteten Sozialprodukte allen Bürgern, den Verbrauchern, dem ganzen Volk also zugute kommen.

Langfristige Entwicklungskurven haben den Vorteil, dass sie ideologieresistent sind und so Ideologien als das entlarven, was sie sind. Denn sie zeigen, wohin die Patentrezepte führen. Sie helfen, Denkhemmungen zu beseitigen und zu verstehen, was an wirtschaftlichen Entwicklungen unausweichlich ist und was politisch gesteuert werden kann. Auch die neoliberale Wirtschaft mit ihrer Freihandelsdoktrin ist eine Wirtschaftslehre, die mit dem Versprechen angetreten ist, Wohlstand für alle (gerade auch in den Entwicklungsländern) zu schaffen. An diesem Versprechen muss sie sich jetzt messen lassen. Heute, nach so vielen Jahren, reichen die Wirtschaftsdaten dafür aus.

Ein wesentliches Ergebnis können wir vorwegnehmen: Die Analyse der Wirtschaftsdaten der Bundesrepublik zeigt, dass die Entwicklung die Gesellschaft zu spalten droht.

Bis ca. Anfang der 70er Jahre stiegen mit dem wachsenden Sozialprodukt etwa gleichermaßen die Einkommen aus Unternehmen und Vermögen und die Einkommen der abhängig Beschäftigten. Die Wirtschaft diente so beiden Gruppen. Die BRD war tatsächlich ein Sozialstaat im Sinne Erhards. Doch in der Phase des Neoliberalismus spaltete sich die Gesellschaft immer schneller. Die Nettoeinkommen aus Unternehmen und Vermögen stiegen steil an. Die abhängig Beschäftigten trugen die Lasten der Arbeitslosigkeit, erlitten die Folgen der Reduzierung der sozialen Sicherheit, waren in erster Linie vom sinkenden öffentlichen Wohlstand betroffen, und auch ihr privater Wohlstand nahm mit dem Rückgang der durchschnittlichen Nettorealeinkommen ab.

Doch die abhängig Beschäftigten sind mit fast 90% der Erwerbstätigen die Erwerbsquelle für (fast) »das ganze Volk« Erhards. Der großen Masse der Bürger hat diese Wirtschaft also nicht mehr gedient. Sie ist deshalb schon lange keine »soziale Marktwirtschaft« mehr. Das Problem von heute ist infolgedessen nicht die Reform des Sozialstaats, sondern seine Neuschaffung oder der endgültige Verzicht auf Sozialstaatlichkeit im Sinne Erhards, die Aufgabe des »rheinischen Kapitalismus«.

Warum und wie starb Erhards Sozialstaat? Dieser Tod hat viele Gründe, unabänderliche, aber auch politisch änderbare. Eine wesentliche Rolle hat dabei die Belastung nur der abhängig Beschäftigten mit den Soziallasten gespielt. Doch, wie zu zeigen sein wird, gibt es daneben einen vielleicht noch wichtigeren Faktor: die Verlagerung der Steuern weg von Unternehmen und Vermögen auf die Einkommen der abhängig Beschäftigten.

Sofort stellt sich die Frage. Wie ist es zu dieser Entwicklung gekommen? Warum werden denn die Steuern und Abgaben nicht wieder so verteilt wie in den 6oer Jahren? Und: warum sind selbst die Bruttoeinkommen (vor Abzug dieser Abgaben und Steuern) der abhängig Beschäftigten nicht mehr mit dem Sozialprodukt gestiegen? In der Verfolgung dieser Fragen landet man unabänderlich bei den Problemen eines offenen Weltmarkts mit seinem Druck auf die Einkommen durch einen (sinkenden) »Weltmarktpreis für Arbeit« und den Steuerfluchtmöglichkeiten, die er für Unternehmen und Kapital eröffnet.

Die Umkehrung dieser den Wohlstand der Massen tatsächlich gefährdenden Trends, ihre »Revolution«, ist Voraussetzung für die Neuschaffung der Sozialstaaten Europas, die Ausbreitung des »rheinischen Kapitalismus«. Eine Revolution dieser Trends wird damit die Voraussetzung für eine europäische Zone von Sozialstaaten. Sozialstaatlichkeit wäre ein denkbares Markenzeichen für ein »Europa«, wäre eine Antwort auf die Frage: Warum wollen wir »Europa«? Ist die europäische Idee ohne eine einigende, Europa eine Identität gebende Sozialstaatlichkeit nicht inhaltsleer und deshalb zum Scheitern verurteilt?

Horst Ahfeldt, Wirtschaft, die arm macht, München 2003, Einleitung S. 7 ff.