Christoph Butterwegge

Armut und Reichtum in der Bundesrepublik

Neoliberalismus als Quelle sozialer Ungleichheit

 

Mit dem Neoliberalismus und seinem Konzept des "Standortwettbewerbs" verbindet sich der Glaube, durch die Globalisierung der Ökonomie könne weltweit Wohlstand geschaffen, Arbeitslosigkeit als Massenphänomen beseitigt und Armut für immer überwunden werden. Ausgehend von dem Begriff "Globalisierung", wird der Prozess einer neoliberalen Modernisierung auf seine Konsequenzen für die Entwicklung des Wohlfahrtsstaates und der Sozialstruktur überprüft.

Globalisierung – ein Kosename für die neoliberale Modernisierung

Wenn man ihn nicht ökonomistisch verkürzt, bezeichnet der Terminus "Globalisierung" allgemein einen Prozess, welcher national(staatlich)e Grenzen überwindet, zur Ausweitung bzw. Intensivierung der sozialen Beziehungen führt und schließlich den gesamten Planeten umspannt. Die wirtschaftliche Globalisierung betrifft vor allem das Finanzkapital, Geld- und Kapitalmärkte sowie Handelsströme. Die neue Qualität der ökonomischen Globalisierung gegenüber allen vorangegangenen Tendenzen zur Internationalisierung der Produktion, des Handels und des Kapitals besteht darin, dass sich dieses aufgrund der modernen Informations- und Kommunikationstechnologien in Sekundenbruchteilen und wegen der Liberalisierung des Kapitalverkehrs ohne staatliche Kontrollen über den gesamten Erdball bewegt, durch transnationale Konzerne, grenzüberschreitende Fusionen bzw. strategische Allianzen in bisher unbekannte Dimensionen vorstößt und durch Spekulationen auf explosionsartig wachsenden Finanzmärkten gigantische Gewinne (oder Verluste) macht, ohne realwirtschaftlich gedeckt zu sein.

Was als naturwüchsiger Prozess erscheint, der die Bundesrepublik – genauso wie andere Länder des hoch industrialisierten Westens – zwingt, ihre Lohn- bzw. Lohnnebenkosten und Sozialleistungen zu senken, um konkurrenzfähig zu bleiben oder zu werden, basiert auf wirtschafts-, währungs- und finanzpolitischen Weichenstellungen der mächtigsten Industriestaaten, die nach dem Zusammenbruch des Weltwährungssystems von Bretton Woods 1973 unter dem wachsenden Gewicht der Neoklassik bzw. des Neoliberalismus versuchten, das Kapital von all seinen Fesseln zu befreien. An die Stelle eines jahrzehntelangen Rüstungswettlaufs zwischen zwei Militärbündnissen (NATO und Warschauer Pakt) trat 1989/91 ein ökonomisch-technologisches Ringen zwischen drei großen Wirtschaftsblöcken: Nordamerika unter Führung der USA, Westeuropa unter deutscher Führung und Südostasien unter japanischer Führung kämpfen seither verstärkt um Absatzmärkte, Marktanteile, Anlagesphären, strategische Rohstoffe, Ressourcen und Patentrechte. Es scheint, als sei dem Sozialstaat nach dem "Sieg über den Staatssozialismus" der Krieg erklärt worden. Offenbar stellte der Wegfall einer – noch nicht einmal attraktiven – Systemalternative die im nordwestlichen Kontinentaleuropa dominante Entwicklungsvariante des Kapitalismus, als "rheinisches Modell" apostrophiert, zur Disposition.

Neoliberalismus war zunächst eine Wirtschaftstheorie, aus der sich später eine Sozialphilosophie entwickelte, welche den Staat und die gesamte Gesellschaft aus Effizienzgründen nach dem Modell der Leistungskonkurrenz (um)gestalten will, wobei ihr der Markt zu einem wahren Mythos und der Wettbewerb zwischen den Wirtschaftssubjekten zu einem Wundermittel für die Lösung aller sozialen Probleme gerät. Neoliberalen erscheint der (nordwest)europäische Wohlfahrtsstaat, wie wir ihn seit dem Zweiten Weltkrieg kennen, als von der ökonomisch-technologischen Entwicklung überholt, als Hemmschuh der Wettbewerbsfähigkeit und moderner Dinosaurier, der ins Museum der Altertümer gehört, neben das Spinnrad und die bronzene Axt. Man wirft ihm vor, für die Investitionsschwäche des "Wirtschaftsstandorts D" und die hohe Arbeitslosigkeit hierzulande verantwortlich zu sein, weil es sich aufgrund der zu üppigen Lohnersatzleistungen für davon Lebende überhaupt nicht "rechne", Erwerbsarbeit zu leisten. Ausgerechnet in einer Beschäftigungskrise, wo Millionen Arbeitsplätze – eben nicht: Arbeitswillige – fehlen, wird der Arbeitszwang wieder im Zuge einer Diskussion über den "aktivierenden/ermunternden Sozialstaat" verstärkt. Auch das Konzept der Hartz-Kommission ist ein weiterer Markstein auf diesem Weg in die falsche Richtung.

Wenn man bedenkt, wie kontinuierlich das deutsche Bruttoinlandsprodukt bei fast stabilen Preisen wächst, dass die Bevölkerungszahl der Bundesrepublik stagniert oder längerfristig zurückgeht und dass die Sozialleistungsquote trotz der außergewöhnlichen Belastung durch die Wiedervereinigung und einer erheblich höheren Arbeitslosenquote heute niedriger ist als vor einem Vierteljahrhundert, kann von einem "überbordenden" Wohlfahrtsstaat ernsthaft genauso wenig die Rede sein wie von einer Überforderung der Volkswirtschaft. Was sich in dem genannten Zeitraum – zu Gunsten von Grundeigentümern, Kapitalbesitzern, Selbstständigen und Spitzenverdienern, aber zu Ungunsten von Arbeitnehmer(inne)n, Erwerbslosen und Rentner(inne)n – spürbar verändert hat, ist die Verteilung des Volkseinkommens.

Marktmechanismen und Konkurrenzbeziehungen halten Einzug auch in Gesellschaftsbereiche, die bisher davon frei waren oder – wie etwa das Sozial- und Gesundheitswesen – gar ein Gegengewicht hierzu gebildet hatten. Durch die Anwendung betriebswirtschaftlicher Managementmethoden, häufig unter dem "Diktat leerer Kassen" begonnen, jedoch als Reformmaßnahme deklariert und von wohl klingenden Etiketten ("Neues Steuerungsmodell", "Qualitätssicherung", "Kundenorientierung" o.ä.) begleitet, wurden Einsparreserven und Rationalisierungspotenziale auch dort genutzt, wo sie einem humanen Umgang mit sozial Benachteiligten und Behinderten dienten.

Deregulierung bedeutet nicht Verzicht auf staatliche Rahmensetzung, vielmehr deren Konzentration auf die Förderung des wirtschaftlichen Leistungswettbewerbs und der rentablen Kapitalverwertung. Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und -zeiten bringt für die Beschäftigten keine oder nur wenig Vorteile, weil sie sich den wirtschaftlichen Verwertungsbedingungen unterordnen müssen und nicht selbst bestimmen können, wann und unter welchen Bedingungen sie arbeiten wollen. Privatisierung öffentlichen Eigentums und sozialer Dienstleistungen läuft auf Entpolitisierung, diese wiederum auf die Entdemokratisierung der Gesellschaft hinaus, weil nunmehr der Bourgeois jene Entscheidungen trifft, die eigentlich dem Citoyen bzw. dem Gemeinwesen und seinen gewählten Repräsentant(inn)en vorbehalten bleiben sollten.

Wenn sie als neoliberales Projekt ohne Ausgleich binnengesellschaftlicher und internationaler bzw. -kontinentaler Wohlstandsgefälle durch soziale Interventionsmaßnahmen realisiert wird, bildet die Globalisierung eine Gefahr. Wohlfahrtsstaaten stehen aber nicht im Standortwettbewerb miteinander, sondern bilden einen relativ unabhängigen, von den Verteilungs-, Macht- und Mehrheitsverhältnissen abhängigen Überbau der Volkswirtschaften, die ihrerseits aus Unternehmen, Kapitaleigentümern und Beschäftigten bestehen. Wie viel Geld für die Sozialpolitik verwendet wird, ist zwar nicht losgelöst vom gesellschaftlichen Reichtum, bleibt aber auch in einer globalisierten Welt letztlich jedem Land selbst überlassen.

Überhaupt ist zu fragen, ob es im dritten Jahrtausend für mündige Bürger/innen noch Sinn macht, gegeneinander zu konkurrieren, statt im Interesse einer nachhaltigen Entwicklung miteinander zu kooperieren. Der neoliberale Wettbewerbswahn kann schlechterdings nicht das Bewegungsgesetz einer Gesellschaft der Zukunft sein. Wohlfahrtseinrichtungen, Kunst, Kultur, (Weiter-)Bildung, Wissenschaft und Forschung dürfen nicht von kommerziellen Interessen oder von der Spendierfreude privater Unternehmer, Mäzene und Sponsoren abhängig werden. Besser für die Allgemeinheit wäre es, sie in der Obhut demokratisch legitimierter Institutionen zu belassen.

Folgen der Standortlogik: Dualisierung der Armut, soziale Polarisierung und Entsolidarisierung

Die wirtschaftliche Globalisierung führt keineswegs zur Generalisierung des Wohlstandes. Vielmehr wirkt der Globalisierungsprozess im Rahmen neoliberaler Politik als "soziales Scheidewasser", das die Bevölkerung der Bundesrepublik wie die anderer Länder in Gewinner und Verlierer/innen, diese jedoch wiederum in Marginalisierte (Dauerarbeitslose, Deprivierte und Langzeitarme) einerseits sowie Geringverdiener/innen (prekär Beschäftigte, von Überschuldung Bedrohte und Kurzzeitarme) andererseits spaltet. Was man "Dualisierung der Armut" nennen kann, reproduziert die "klassische" Doppelstruktur sozialer Ungleichheit auf erweiterter Stufenleiter: Während die Dauerarbeitslosen den "sozialen Bodensatz" im Gegenwartskapitalismus bilden, verkörpern Niedriglohnempfänger/innen, oftmals Migrant(inn)en und ethnischen Minderheiten entstammend, gewissermaßen das "Treibgut" des Globalisierungsprozesses.

Auswirkungen der Standortlogik bestehen in der Wohlstandsmehrung für relativ wenige und in der Verarmung vieler Menschen, verbunden mit einer Tendenz zur Spaltung von Wirtschaft, Gesellschaft und (Sozial-)Staat. Der ganze Planet wird in Gewinner- und Verliererstaaten, jede Gesellschaft noch einmal in soziale Auf- und Absteiger gespalten. Prozesse der Pauperisierung, sozialen Polarisierung und einer Dualisierung der Sozialstruktur sind Resultate der neoliberalen Modernisierung. Ulrich Beck sprach 1986 in seinem Buch "Risikogesellschaft" noch von einem sozialen "Fahrstuhl-Effekt", der alle Klassen und Schichten gemeinsam nach oben befördert habe. Betrachtet man vor allem den weiteren Verlauf der Gesellschaftsentwicklung, kann zumindest seither von einem Paternoster-Effekt die Rede sein: In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangen, geht es für die anderen nach unten. Mehr denn je gibt es im Zeichen der Globalisierung ein soziales Auf und Ab, das Unsicherheit und Existenzangst für eine wachsende Zahl von Menschen mit sich bringt.

Vor allem die Steuerpolitik sorgte während der gesamten 80er- und 90er-Jahre dafür, dass sich die Einkommensverteilung zu Lasten von Arbeitnehmer(inne)n und ihren Familien verschob, während begünstigt wurde, wer Einkünfte aus Unternehmertätigkeit und Vermögen erzielte. Zu nennen sind Senkungen der Körperschaftssteuer, die Abschaffung der Vermögen- und der Gewerbekapitalsteuer sowie eine Vielzahl von Sonderabschreibungen, die Jahressteuergesetze, das Fördergebietsgesetz, das sog. Standortsicherungsgesetz und drei Finanzmarktförderungsgesetze enthielten.

Wenn die "Amerikanisierung" des Sozialstaates (exemplarisch genannt sei nur die Teilprivatisierung der Altersvorsorge durch das am 11. Mai 2001 von Bundestag und Bundesrat endgültig beschlossene Altersvermögensgesetz) fortgesetzt wird, dürfte eine Amerikanisierung der Sozialstruktur (Vertiefung der gesellschaftlichen Kluft zwischen Arm und Reich) nicht ausbleiben. Damit verbunden wäre eine noch weiter verschärfte soziale Polarisierung, wie sie in den USA schon seit langem zu beobachten ist. Jenseits des Atlantiks ist auch die sozialräumliche Trennung von Bevölkerungsgruppen klarer erkennbar, samt ihren verheerenden Folgen für den Zusammenhalt der Gesellschaft, hinsichtlich einer drastisch gestiegenen (Gewalt-)Kriminalität, des Drogenmissbrauchs und einer Verwahrlosung der öffentlichen Infrastruktur.

Man kann von einer Dualisierung bzw. einer Doppelstruktur der Armut sprechen: Einerseits sind (bis in den Mittelstand hinein) mehr Personen betroffen, und zwar auch solche Bevölkerungsgruppen, die früher – weil meist voll erwerbstätig – im relativen Wohlstand des "Wirtschaftswunderlandes" lebten.

Deutlich zugenommen hat die Zahl jener Personen/Haushalte, deren Einkommen trotz Lohnarbeit in Form eines oder mehrerer Arbeitsverhältnisse nicht oder nur knapp über der relativen Armutsgrenze liegt ("working poor"). Andererseits verfestigt sich fast unbemerkt die Langzeit-, perforierte bzw. Mehrfacharbeitslosigkeit älterer und/oder gering qualifizierter Personen zur Dauerarbeitslosigkeit, wodurch ansatzweise eine soziale Schicht total Deklassierter, d.h. vom Arbeitsmarkt wie auch von der gesellschaftlichen Teilhabe Ausgeschlossener ("underclass"), entsteht.

Auch in der Bundesrepublik hat sich, wenngleich mit erheblicher Verzögerung gegenüber anderen westlichen Industrieländern, ein breiter, seinem Umfang nach oft unterschätzter Niedriglohnsektor herausgebildet, der nicht mehr nur typische Frauenarbeitsplätze umfasst. Den armen Erwerbslosen, die niedrige oder ganz fehlende Lohnersatzleistungen auf das Existenzminimum zurückwerfen, traten die erwerbstätigen Armen zur Seite. Längst reichen viele Vollzeitarbeitsverhältnisse nicht mehr aus, um eine Familie zu ernähren, sodass ergänzend ein oder mehrere Nebenjobs übernommen werden und nach Feierabend bzw. an Wochenenden (zum Teil schwarz) weitergearbeitet wird.

Die soziale Segregation nimmt zu: Vor allem viele Großstädte zerfallen in Luxusquartiere und sozial benachteiligte Wohngebiete oder auch Stadtteile "mit besonderem Erneuerungsbedarf", wie sie sehr euphemistisch genannt werden. Dort entsteht ansatzweise ein modernes Lumpenproletariat, das sich in erster Linie aus Migrant(inn)en zusammensetzt. Die gesellschaftlichen Kern- und Randschichten konstituieren separate Lebenswelten, spezifische soziokulturelle Milieus und "Parallelgesellschaften" bzw. ethnische Gemeinschaften, was sich in ökonomischen Krisen- und Umbruchperioden politisch für eine Radikalisierung nach rechts ausnutzen lässt. Die neoliberale Hegemonie führt also nicht nur zu einer Dichotomie der Sozialstruktur, sondern auch zu verstärkter Sozialdemagogie rechtsextremer Organisationen, und bedroht letztlich die Demokratie.

Entscheidend für die Realisierung einer sozialen Bürger- bzw. Zivilgesellschaft ist, ob es gelingt, das gesellschaftliche Klima im Rahmen einer politischen (Gegen-)Mobilisierung zu verbessern und eine neue Kultur der Solidarität zu entwickeln. Mag es auch nach den Terroranschlägen von New York und Washington am 11. September 2001, zum Teil heuchlerischen Reaktionen und einer seither noch mehr um sich greifenden Verkürzung des Sicherheitsbegriffs auf militärische Optionen, polizeiliche Interventionen und Geheimdienstaktionen schwerer sein, für demokratische Offenheit, Toleranz und Solidarität zu werben, so eröffnet doch dies allein Perspektiven für eine humane Gesellschaft, in der Mitmenschlichkeit und nicht der (Welt-)Markt das Zusammenleben bestimmt.

Buchpublikationen des Autors zum Thema:

Butterwegge, Christoph/Hickel, Rudolf/Ptak, Ralf: Sozialstaat und neoliberale Hegemonie. Standortnationalismus als Gefahr für die Demokratie, Berlin 1998

Butterwegge, Christoph/Kutscha, Martin/Berghahn, Sabine (Hrsg.): Herrschaft des Marktes – Abschied vom Staat?, Folgen neoliberaler Modernisierung für Gesellschaft, Recht und Politik, Baden-Baden 1999

Butterwegge, Christoph: Wohlfahrtsstaat im Wandel. Probleme und Perspektiven der Sozialpolitik, 3. Aufl. Opladen 2001

Butterwegge, Christoph/Hentges, Gudrun (Hrsg.): Politische Bildung und Globalisierung, Opladen 2002

Butterwegge, Christoph/Klundt, Michael (Hrsg.): Kinderarmut und Generationengerechtigkeit. Familien- und Sozialpolitik im demografischen Wandel, Opladen 2002

 

Prof. Dr. Christoph Butterwegge, geb. 1951, leitet die Abteilung für Politikwissenschaft an der Universität zu Köln