Die zu teure Wahrheit

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Demgegenüber ist es um so erstaunlicher und ärgerlicher, daß man in den Statistischen Jahrbüchem wenig bis gar nichts zu der wirtschafts- und gesellschaftspolitisch so wichtigen Frage nach Höhe und Verteilung des Vermögens in der Bundesrepuba findet (um nur eine der weit klaffenden Lücken dieses Zahlenfriedhofs zu erwähnen). Lediglich einige Aufstellungen über die Einkommens- und Vermögenssteuern sind vorhanden. Die Frage, wem die deutsche Wirtschaft gehört und wie sich die Besitzverhältnisse im Lauf der Zeit verändern, läßt sich anhand dieser mageren Steuertabellen nur sehr vage beantworten. Ob die Konzentration des Vermögens in der Bundesrepublik zu- oder abnimmt, läßt sich nur nüt Hilfe komplizierter Schätzungen feststellen.

Professor Bruno Gleitze klagte deswegen einmal: »Die Theorie ist gespalten, wenn sie Beziehungen zwischen Einkommenspolitik und Vermögensbildung klären will. Die statistische Erfassung der qualitativen Prozesse, die sich während der Nachkriegszeit vollzogen haben und bis dahin ungewohnte quantitative Ausmaße annahmen, blieb in Deutschland trotz besonders hochentwickelter Statistik leichtfertig oder sogar mit Absicht so sehr vernachlässigt, daß uns auch heute noch jene funktionalen Zusammenhänge verborgen sind, die als statistische Größenordnungen hinter den Globalgrößen der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung stehen.« Mit anderen Worten: Der Kampf um die Verteilung von Einkommen und Vermögen spielte sich jahrelang ab wie ein Negerkampf im Tunnel. Wie der gemeinsam gebackene Kuchen bei diesem Ringen wirklich verteilt wurde, blieb im dunkeln - sehr zum Vorteil der Sieger.

Es wäre ungerecht, den amtlichen Zahlensamrnlern deswegen Vorwürfe zu machen. Ihnen sind die Hände gebunden. Damit mußten sich auch die Experten des »Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung« abfinden. Ihnen ist zwar von Regierung und Parlament der gesetzliche Auftrag erteilt worden, sich auch kritisch mit der Einkommens- und Vermögensverteilung zu befassen, denn: »In die Untersuchung soll auch die Bildung und die Verteilung von Einkonunen und Vermögen einbezogen werden.«2 Doch die Volksvertreter vergaßen, die dafür notwendigen Voraussetzungen zu schaffen. Als die Fünf Weisen nach den erforderlichen statistischen Unterlagen fahndeten und den Präsidenten des Statistischen Bundesamts dabei um Unterstützung baten, mußte dieser bedauernd ablehnen.

In einem Brief des damaligen Präsidenten Gerhard Fürst an den Vorsitzenden des Sachverständigenrats heißt es: »... Die deutsche amtliche Statistik hat auch bisher die große Bedeutung einer eingehenden statistischen Darstellung der erwähnten, ökonomisch wie politisch gleich wichtigen Tatbestände in keiner Weise verkannt. Sie bemüht sich deshalb auch seit langem darum, geeignete Unterlagen bereitzustellen. Es ist jedoch nicht zu bestreiten, daß noch nicht alle angestrebten Ziele erreicht werden konnten ... Relativ reichhaltig ist das Material über Tarif- und Effektivverdienste sowie über Lohnkosten für weite Bereiche der Wirtschaft. Am ungünstigsten ist die Lage in bezug auf Angaben über die Vermögensverteilung ... Schon jetzt läßt sich im übrigen absehen, daß einige Wünsche nicht (oder nur teilweise) ohne zusätzliche Statistiken erfüllt werden können. Damit würden entsprechende Rechtsgnmdlagen erforderlich, denn die amtliche Statistik kann ohne speziellen gesetzlichen Auftrag nicht tätig werden. Ob in absehbarer Zeit neue Gesetze über Einkommens- und Vermögensstatistiken erlassen werden, hängt von vielen Umständen ab, die im einzelnen nicht dargelegt zu werden brauchen.«

Mit dem Mantel christdemokratischer Eigenliebe

Von solchen heißen Eisen läßt ein Beamter wie Gerhard Fürst besser die Finger. Doch welche Grüde mögen es wohl sein, die dazu geführt haben, daß es zwar sehr detaillierte Statistiken über Tarfflöhne, Effektivverdienste und soziale Leistungen gibt, aber wenig oder nichts über Höhe und Entstehung der großen Einkommen und Vermögen? Darüber, welche Kosten ein Arbeiter oder Angestellter verursacht, um wieviel die Löhne, die Lohnnebenkosten oder die sozialen Abgaben gestiegen sind, gibt jede Firma gern Auskunft. Was ein Arbeiter oder Angestellter einbringt, wird dagegen lieber verschwiegen. Ihre Gewinne veröffentlichen (von wenigen löblichen Ausnahmen abgesehen) nur die Unternehmen, die dazu vom Gesetz gezwungen werden. Wer etwas über die Einkommens- und Vermögensverhältnisse der Unternehmer erfahren möchte, verletzt nach einer weitverbreiteten - und von den Betroffenen mit Hingabe gepflegten - Ansicht schamlos die Intimsphäre. Dieser sich an der Höhe des Einkommens orientierenden Auffassung von Diskretion ist es denn wohl auch zuzuschreiben, daß die Statistiker die bei den Finanzämtern liegenden Lohnsteuerkarten der Arbeiter und Angestellten (versehen mit vollem Namen und Adresse) unbehindert auswerten dürfen, während die Angaben über das Einkommen der Großverdiener vorher auf Karten ohne Identitätsangabe übertragen werden.

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Michael Jungblut, Die Reichen und die Superreichen in Deutschland, Hamburg 1971, S. 29 f.