Die Quelle für Millionen

Helmut Horten war nicht der einzige Unternehmer in der Bundesrepublik, der im Handel fast am Nullpunkt anfing und dann im Alleingang den Einbruch in den exklusiven Zirkel der Milliardäre schaffte. Noch steiler verlief der Pfad, der Gustav Schickedanz an die Spitze der Vermögenspyramide führte. Der »Patriarch von Fürth«, der ähnlich wie Horten sein Vermögen über den Ladentisch (oder hier besser den Packtisch) erwarb, kontrolliert das größte Versandhaus nicht nur der Bundesrepublik, sondern Europas. Er gehört nach einer Verlautbarung seiner hauseigenen Presseabteilung »zu den großen Unternehmerpersönlichkeiten, die auf eine ganz außergewöhnliche Lebensleistung zurückblicken können«. Der Herr der »Quelle« herrscht nicht nur über zwei große Versandhandelshäuser mit Tochtergesellschaften in Osterreich, Frankreich und Belgien, sondern ließ Anfang 1970 seine Waren darüber hinaus in der Bundesrepublik in 20 Kaufhäusern, 152 Verkaufsniederlassungen, 112 Verkaufsstellen und 20 Foto-Spezialgeschäften feilbieten. Zu seinem Konzern gehören außerdem Papierfabriken, eine Bank, Brauereien und Engagements bei Firmen wie der Großdruckerei Maul. Das gesamte Eigenkapital der Gruppe lag 1969 bei etwa 350 Millionen Mark (der gesamte Vermögenswert natürlich um ein Vielfaches höher).

Man hat es dem vielseitigen Handelsherrn, der auch mit 75 Jahren noch alle Fäden seines Konzerns in der Hand hielt (und mitunter recht eigenwillig daran zog) gewiß nicht an der Wiege gesungen, daß er einmal über einen derartigen Konzern herrschen würde. Gustav Schickedanz kam als Sohn eines Werkmeisters aus Dambach bei Fürth zur Welt. Seine Eltern konnten ihm Sinn für Arbeit, Ordnung und emsigen Fleiß mit auf den Weg geben, jedoch kein finanzielles Startkapital. Im Jahre 1923, mit 28 Jahren, gründete Schickedanz eine Großhandlung für Kurz-, Weiß- und Wollwaren - mitten in der Inflation. Vier Jahre später wurde das Versandhaus Quelle gegründet. Die ersten Pakete schaffte der strebsam junge Mann oft selber mit der Handkarte zur Post. Doch diese Karre wurde bald zu klein, denn 1934 belieferte er schon eine Viertelmillion Kunden. Zwei Jahre später hatte er eine Million Namen in seiner Kartei. 1938 konnte sich Schickedanz mit 40 Millionen Reichsmark den höchsten Vorkriegsumsatz ausrechnen. Im Krieg ging es dann aber erst einmal wieder fast ebenso steil bergab. Die Waren wurden bewirtschaftet, der Nachschub stockte. 1943 wurden bei einem Bombenangriff neun Zehntel der Betriebsgebäude des Versandunternehmens zerstört. Die restlichen Gebäude besetzten 1945 beim Einmarsch die Sieger. Auch das wichtigste Requisit eines Versandhauses - die Kundenkartei - war vernichtet.

Doch als Gustav Schickedanz 1948, im Jahr der Währungsreform, die »Quelle« wieder neu gründete, zeigte sich, daß sie noch nicht ganz versiegt war. Selbst weitgehend zerbombte Betriebsgebäude waren Gold wert in diesen Jahren, in denen nur das Sachkapital von der rigorosen Entwertung allen Geldvermögens durch die Währungsreform verschont blieb. Bereits im ersten Jahr wurde ein Umsatz von 315 000 Mark erzielt. Den allgemeinen Warenhunger und den deutlichen Vorsprung, den Ludwig Erhards Wirtsdiaftspolitik den Unternehmern beim Wettlauf in die Überflußgesellschaft gab, wußte ein Mann wie Schickedanz mit Tatkraft zu nutzen. Gewiß, seine »Quelle« war fast vollständig unter Trümmern begraben - was auch von den Public-Relations-Managern des Konzerns gebührend herausgestrichen wird, damit der spätere Aufstieg vor diesem Hintergrund nur um so strahlender erscheint. Doch die Erträge seiner florierenden Brauereien und Papierfabriken trugen das ihre dazu bei, daß sich der »Quelle«-Boß nach dem Krieg unangefochten an die Spitze der deutschen Versandhändler setzen konnte.

Der zweite Aufstieg des Werkmeistersohns verlief denn auch noch rasanter als der erste. Schon im zweiten Jahr nach der Neugründung des Versandhauses schnellte die Umsatzzahl auf 12 Millionen hinauf. 1952 hatte der Fürther Paketepacker wieder ein Kundenheer in Millionenstärke um sich versammelt, und als er Ende 1961 die Auftragsbücher aufaddierte, war die erste Umsatzmilliarde voll. Um dieses Ergebnis im Handelsbereich zu verdoppeln, hatte Schickedanz nur noch sieben weitere Jahre nötig. Der Gesamtumsatz des Konzerns einschließlich der Brauereien und sonstigen Besitztümer stieß zu diesem Zeitpunkt sogar an die Drei-Müliarden-Grenze.

Im gleichen Jahr wurde auch der Schickedanz-Familien-Verein e. V. gegründet. Er soll den Fortbestand des Unternehmens auch über die Zeit des Gründers hinaus sichern. Diesem Verein wurden alle Anteile der Kommandozentrale des Konzerns, der Schickedanz International Holding GmbH., übertragen, über die die weitverzweigte Gruppe gesteuert wird. Der »Patriarch von Fürth« ist seinem Lebenswerk zu sehr verbunden, um wie Horten nur einen günstigen Zeitpunkt für den Verkauf abzuwarten. Immerhin dachte Gustav Schickedanz auch nicht nur an sich und seine Familie. Anläßlich seines 75. Geburtstags stiftete der Per-Post-Händler für Mitarbeiter, die mindestens fünfzehn Jahre im Unternehmen tätig sind, eine Altersversorgung. Aus den Mitteln dieses Fonds, dem jährlich 11 Millionen Mark zufließen sollen, werden die sozialen Alters- und Invalidenrenten sowie die Bezüge von Witwen und Waisen aufgebessert. Auf diese Weise erhalten diejenigen, die mindestens anderthalb Jahrzehnte lang mitgeholfen haben, das Milliardenvermögen aufzubauen, das die Schickedanz-Gruppe heute repräsentiert, wenigstens einen bescheidenen Teil der Erträge, die aus diesem Besitz fließen.

Von den rund 30 000 Beschäftigten des Konzerns kommen allerdings nur diejenigen in den Genuß dieser »Aktion Abendsonne«, die wenigstens während eines Drittels ihres Arbeitslebens mitgeholfen haben, die »Quelle« sprudeln zu lassen. Deshalb muß es sich jeder langjährige Mitarbeiter dreimal überlegen, ob er nach vielleicht zehn Jahren am Packtisch des Versandhandels eine möglicherweise besser bezahlte oder interessantere Arbeit in einem anderen Betrieb annehmen soll. Seine bis dahin entstandene Anwartschaft verfällt, und er muß im Alter auf die versprochene Zusatzrente verzichten. Zwar sind die Gitter des Käfigs vergoldet, aber die freie Arbeitsplatzwahl wird durch solche Versorgungswerke erheblich eingeschränkt. Eine vermögenswirksam angelegte Gewinnbeteiligung hätte diese Nachteile nicht - dafür für den Unternehmer aber auch nicht den erwünschten Effekt, daß sie die Mitarbeiter anbindet.

Michael Jungblut, Die Reichen und die Superreichen in Deutschland, Hamburg 1971, S. 71 ff.