Start in der Baracke

Daß ein Raketenstart ins Konsumparadies auch dann möglich war, wenn man nicht über einen Treibsatz aus Vorkriegsbeständen verfügte, sondern bloß die Gabe besaß, die Zeichen der Zeit richtig zu deuten, bewies ein Mann wie Werner Otto, der nach eigenen Worten »vor dem Krieg wirtschaftlich nicht viel geleistete hat. Im Gegensatz zu Schickedanz und Neckermann, der 1938 aus jüdischem Besitz das Berliner Textilversandhaus »Wäschemanufaktur Carl Joel« übernommen hatte, startete Otto nach der Währungsreform als Neuling im Versandhandel. Sein erster Versuch, sich als Schuhproduzent zu etablieren, war schon nach kurzer Zeit fehlgeschlagen. Geblieben waren ihm nach der Liquidation seiner Kleinstfabrik ganze 6000 Mark und eine Baracke. Nicht viel, aber Otto wußte das Beste daraus zu machen.

Gegen eine Gebühr von einer Mark meldete er bei der Hamburger Behörde für Wirtschaft und Verkehr die Firma »Versandhandel« an, tippte und klebte selber einen vierzehn Seiten starken Katalog zusammen und ließ dann in seiner Baracke Pakete packen - Anfang 1950 nicht mehr als fünfzehn täglich. Doch schon 1951 erreichte der Schnellstarter Otto die erste Umsatzmillion, vier Jahre später waren es 30, und Ende 1969 meldete der Otto-Versand, daß für 954 Millionen Mark Kundenwünsche erfüllt worden seien. Der schon längst in Farbe erscheinende Katalog hatte inzwischen über 800 Seiten. Daneben bemühte sich der agile Sechzigjährige mehr als jeder andere Versandhändler um die Jugend - d. h. um ihren Geldbeutel. Statt unter dem etwas biedermännisch klingenden Namen Otto-Versand verspricht er Teens und Twens die Erfüllung ihrer Wünsche in einem post-shop-Katalog. Eingedenk des Teenager-Mottos »trau niemandem über dreißig«, verrät nichts an der flott aufgemachten Konsumpostille ihre bürgerliche Herkunft.

Werner Otto, der die künftigen Expansionsmöglichkeiten des reinen Versandhandels ebenso wie seine großen Konkurrenten mit Vorsicht beurteilt, hat sich längst von der Hälfte des Kapitals seines Versandhauses getrennt (ein Viertel gehört noch ihm, ein weiteres seinem Sohn Michael) und sich mit den Gewinnen aus der Päckchenpackerei neue ergiebige Verdienstquellen erschlossen. In Kanada erwarb er beispielsweise Grundstücke, Wohnblocks und Geschäftshäuser. über fünf Tochtergesellschaften ließ er in Toronto mehr als tausend Wohnungen bauen, einige Wolkenkratzer hochziehen und Industrieparks planen.

Immobiliengeschäfte haben Leuten mit dem richtigen Gespür für zukunftsträchtige Lagen schon immer überdurchschnittliche Gewinne gebracht. Im übrigen schien es Otto wohl an der Zeit, einige seiner in Rekordzeit zusammengebrachten Millionen in Übersee sicher anzulegen. Schließlich läßt sich ja nicht mit Sicherheit sagen, ob für Größtverdiener die Verhältnisse in der Bundesrepublik immer so gedeihlich bleiben wie in den ersten beiden Jahrzehnten nach der Währungsreform. Allzu pessimistisch scheint Otto allerdings nicht zu sein, denn auch in der Heimat betreibt er das Grundstücksgeschäft mit Energie und Tatkraft. Seit er den Versandhandel weitgehend seinem Spitzenmanager Günter Nawrath übertragen hat, plant und baut er über seine Werner-Otto-Grundstücksentwicklungsgesellschaft in den verschiedensten Gebieten der Bundesrepublik Einkaufszentren und Industrieparks, die dann häufig sogar an die Konkurrenz vermietet werden.

Aus Otto, dem wirtschaftlichen Nichts vor dem Krieg und dem glücklosen Schuster, wurde so Otto, das Wunderkind des deutschen Versandhandels und schließlich Otto der Baulöwe - und aus 6000 Mark und einer Baracke ein persönliches Vermögen, das einige 100 Millionen Mark umfassen dürfte.

Michael Jungblut, Die Reichen und die Superreichen in Deutschland, Hamburg 1971, S. 74 f.