Freiheit ist auch die Freiheit des anderen

... Freiheit meint aber nie die Freiheit der wenigen — in diesem Fall die Freiheit der Kapitalbesitzer —, sondern immer die Freiheit aller. Demokratie verlangt gesamtgesellschaftliche Teilhabe, also auch die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in den Betrieben und in der Wirtschaft. Der Arbeitnehmer darf nicht nur ein Untertan der Wirtschaft sein. Heute kann von einer wirklichen Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der gesamten Wirtschaft keine Rede sein. Die politischen Parteien teilen die Vorstellungen der Wirtschaftsverbände und die Gewerkschaften werden als Besitzstandswahrer und Betonköpfe diffamiert. Das Wort »Besitzstandswahrer« ist ein Paradebeispiel aus dem Lügenwörterbuch des Neoliberalismus. Nicht die sich selbst bereichernden Manager sind damit gemeint, diese müsste man eigentlich auch eher »Besitzstandsvermehrer« nennen. Gemeint ist auch nicht jenes eine Prozent der Bevölkerung, das 25 Prozent des Geldvermögens besitzt. Ebenso wenig diejenigen, die Produktionsmittel besitzen und Macht ausüben, indem sie mit Betriebsverlagerungen ins Ausland drohen und über das Schicksal der Arbeitnehmer entscheiden. Sie haben den Wegfall der Gewerbekapital- und Vermögenssteuer und die im Vergleich zu den angelsächsischen Ländern geringe Erbschaftssteuer durchgesetzt und vergrößern auf diese Weise unaufhörlich ihren Besitz. Mit Besitzstandswahren sind in der verlogenen Welt des Neoliberalismus Arbeitnehmer, Rentner, Arbeitslose, Sozialhilfeempfänger und diejenigen gemeint, die für die Interessen der sozial Schwachen eintreten. Nirgendwo war die neoliberale Sprachdressur so erfolgreich wie bei Eigentum und Besitz. »Alle Besitzstände müssen auf den Prüfstand«, rufen Deutschlands Reformer und denken nicht an die Reichen, sondern an die Bezieher sozialer Leistungen. Eine Gesellschaft, die Milliardenvermögen nicht besteuert, aber die Hilfe für die Armen kürzt, ist weder christlich noch sozial. Sie ist schlichtweg pervers.

Die Reichen leben in Deutschland im Verborgenen. Auf dem 32. Soziologentag in München wurde die Meinung vertreten, wir hätten Anlass, den historisch verabschiedeten Klassenbegriff neu zu beleben. Denn Klassen im Sinne der Teilhabe oder Nichtteilhabe am Produktivvermögen gäbe es nach wie vor. Nur würden sie seit einem halben Jahrhundert zunehmend unsichtbarer werden. Diese Unsichtbarkeit hätte in Deutschland aber auch eine statistische Ursache. So gäbe es kaum Datenmaterial über die Verteilung von Produktionsmittelbesitz, da das Statistische Bundesamt solche Daten nicht mehr erfasse. Es wird also Zeit, ein Gesetz zu verabschieden, das das Statistischen Bundesamt verpflichtet — und ihm auch die Möglichkeit gibt —, die wahre Verteilung von Reichtum und Vermögen in Deutschland erneut festzuhalten.

Im Herbst 2004 richteten sich alle Augen auf Madeleine Schickedanz, die mit knapp 42 Prozent die größte Anteilseignerin bei dem in die Krise geratenen KarstadtQuelle-Konzern war. Sie gehört mit einem geschätzten Privatvermögen von 2,4 Milliarden Euro zu den Top 50 des deutschen Geldadels. Besorgt fragten sich die Beschäftigten, ob sie wohl bereit sei, ihren Anteil an der benötigten Kapitalzufuhr von 500 Millionen Euro zu leisten. Nachdem die vom Vorstand vorgeschlagenen Lohnkürzungen und Personalabbaupläne gebilligt worden waren, beteiligte sie sich an der Kapitalerhöhung.

Die Gefahr, die von der Konzentration des Besitzes in den Händen weniger für die Freiheit ausgeht, sah niemand klarer als der Freiburger Ökonom Walter Eucken. Er ist einer der geistigen Väter der sozialen Marktwirtschaft. Nicht die Missbräuche wirtschaftlicher Macht seien zu bekämpfen, sondern die wirtschaftliche Macht selbst, war seine Überzeugung. Kapitalismus und Sozialismus befehdeten sich zwar, aber in Wirklichkeit hätten sie vieles gemeinsam. Werde die Marktwirtschaft sich selbst überlassen, dann führe sie zu einer stets größer werdenden Machtkonzentration. Wirtschaftliche Interessengruppen würden dann verstärkt Märkte — also die Konkurrenten — durch Kartelle, Fusionen, Dumping-Preise und Marktsperren kontrollieren. Große Unternehmen könnten dann demokratische Regierungen allein durch ihre bloße Wirtschaftsmacht legal erpressen. Die Politik des Staates sollte deshalb darauf gerichtet sein, wirtschaftliche Machtgruppen aufzulösen oder ihre Funktionen zu begrenzen. Eucken wusste noch, dass eine soziale auch eine demokratische Marktwirtschaft sein muss.

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Oskar Lafontaine, Politik für Alle, Berlin 2005, S. 116 ff.