Die Deutschen haben Grund zum Jammern

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Mit dem Beginn der achtziger Jahre änderten sich langsam, aber stetig die Produktionsbedingungen und die Verteilungsstrukturen der Bundesrepublik. Eine neue Wirtschaftsdoktrin breitete sich, ausgehend von den Vereinigten Staaten, auf der ganzen Welt aus — der Neoliberalismus. Die Mechanismen, mit denen der Sozialstaat für eine gerechtere Verteilung sorgte, wurden Schritt für Schritt zurückgedrängt. An ihre Stelle trat eine Art Marktfundamentalismus, der die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung wieder deutlich verstärkte. Heute können wir das Ergebnis betrachten: Die Gewerkschaften stehen mit dem Rücken an der Wand. Schon lange gelingt es ihnen nicht mehr, ihren eigentlichen Auftrag zu erfüllen. Die Reallöhne treten seit Jahren auf der Stelle, die Gewinne explodieren. Der Staat, der in einer solchen Systemkrise besonders gefordert wäre, der ungleichen Verteilung entgegenzuwirken, versagt. Statt den sozialen Auftrag des Grundgesetzes zu erfüllen und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, hat er die wachsende Ungleichheit durch die Steuer- und Sozialgesetzgebung weiter vergrößert. Renten und Arbeitslosengeld werden gekürzt. Die Arbeitslosenhilfe wird abgeschafft, und die Kranken werden zur Kasse gebeten. Gleichzeitig verteilt die Allparteienkoalition in Berlin über Steuersenkungen Milliarden Geschenke an die Unternehmen, die Inhaber großer Vermögen und die Bezieher hoher Einkommen. Deutschlands Top-Konzerne verdienen so viel wie noch nie. Im November des Jahres 2004 meldete das Handelsblatt, dass die Dax-Unternehmen ihre Gewinne im Vergleich zum Jahr 2003 um sechzig Prozent steigern konnten. Selbst gegenüber dem Rekordjahr 2000 war das ein Plus von gut zehn Prozent. Die Arbeitgeberpräsidenten fordern, unterstützt von Politikern aller Parteien, Nullrunden, weil es nichts mehr zu verteilen gebe. Das Ausmaß der Unverschämtheit dieser Forderung belegte das Statistische Bundesamt: Die Einkommen von Arbeitnehmern und Unternehmern entwickeln sich immer deutlicher auseinander. Zwar nahm das Volkseinkommen 2004 um drei Prozent auf 1616 Milliarden Euro zu, doch die Arbeitnehmer hatten nichts davon. Während das Arbeitnehmerentgelt bei 1132 Milliarden Euro stagnierte, stiegen die Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen auf 484 Milliarden Euro an. Das ist mit 10,7 Prozent die höchste Wachstumsrate seit der Wiedervereinigung.

Die Armen werden ärmer, die Reichen reicher. Das ist das Ergebnis des Armutsberichts, den die Bundesregierung im Dezember 2004 vorgelegt hat. »Festzustellen ist ein Trend zunehmender Ungleichheit«, so fasst er diese soziale Entwicklung seit 1998 zusammen und spricht damit auch ein Urteil über die Wirtschafts- und Sozialpolitik der rot-grünen Koalition. Die ärmere Hälfte der Haushaltseinkommen verfügt über nicht einmal vier Prozent des gesamten Nettovermögens. Das reichste Zehntel besitzt 44 Prozent, das sind zwei Prozent mehr als fünf Jahre zuvor. Mehr als drei Millionen Haushalte sind überschuldet. Nach dem Bericht besteht für jede achte Familie die Gefahr, in Armut abzurutschen. Die Armutsgrenze wird mit 938 Euro im Monat je Haushalt definiert.

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Oskar Lafontaine, Politik für Alle, Berlin 2005, S. 12 f.