Ein deutsch-französischer Staatenbund

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Problematischer als der Freiheitsbegriff ist für die Zukunft der Welt die Vorstellung der Amerikaner, sie seien ein auserwähltes Volk. Zu dieser gehört auch die Überzeugung, Amerika sei zur Größe bestimmt und der amerikanische Way of Life sei der Weg Gottes. Europäer finden diesen besonderen Aspekt des amerikanischen Traumes meist unangemessen und oft sogar erschreckend, meint jedenfalls Jeremy Rifkin. Und in der Tat, wenn man ein von Rifkin erwähntes Zitat aus Herman Melvilles Buch Weißjacke oder Die Welt auf einem Kriegsschiff liest, dann läuft es einem kalt über den Rücken, auch wenn man weiß, dass dieses Zitat aus der Gründerzeit Amerikas stammt. Ich gebe es verkürzt wieder: »Und wir Amerikaner sind das auserwählte Volk, das Israel unserer Zeit. Wir tragen die Bundeslade mit den Freiheiten der Welt ... Gott hat es vorherbestimmt, die Menschheit erwartet große Dinge von unserem Stamm, und große Dinge bewegen wir in unserer Seele.«

Noch heute stehen jeden Morgen Millionen amerikanischer Schüler auf, wenn der Lehrer das Klassenzimmer betritt, und beteuern angesichts der amerikanischen Fahne: »Ich gelobe Treue der Flagge der Vereinigten Staaten von Amerika und zur Republik, für die sie steht, eine Nation unter Gott, unteilbar, Freiheit und Gerechtigkeit für alle.« Die Ursache solchen Überschwangs ist immer ein Glaube, der zugleich die Nichtgläubigen und die Anhänger anderer Religionen ausgrenzt. Dieses in der Welt weit verbreitete Glaubensverständnis führt zu Kriegen und hat der Menschheit sehr viel Unglück gebracht. Das Erbe der europäischen Aufklärung — alle Menschen sind gleich und frei — verpflichtet die Bewohner dieses Kontinents, solchen rückständigen Weltanschauungen entgegenzutreten.

Es gibt keine auserwählten Völker. Unabhängig davon, ob solche Auffassungen in einem religiösen, rassistischen oder machtpolitischen Gewand daherkommen, sie sind immer eine Verirrung des menschlichen Geistes. Wenn ich Fotos sehe, auf denen das Kabinett von George W. Bush (Videoclip 3,7 MB) betet, ähnlich innig wie eine Versammlung afghanischer Mullahs, dann wird deutlich, dass der Fundamentalismus nicht nur in den muslimischen Ländern beheimatet ist. 53 Prozent der US-Bürger bezeichnen sich in Umfragen stolz als Fundamentalisten. Und der wiedergeborene Christ, George W. Bush, der mit 39 Jahren unter dem Einfluss des Predigers Billy Graham dem Alkohol abschwor und Jesus umarmte, sieht sich als Werkzeug Gottes. Gefährlich daran ist: Wer glaubt, er erfülle einen göttlichen Auftrag, kann sich nicht irren. Er korrigiert seine Politik auch dann nicht, wenn ihr Scheitern offenkundig ist.

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Oskar Lafontaine, Politik für Alle, Berlin 2005, S. 206 f.