Europäisches Steuer-Dumping

Erinnern wir uns noch einmal an die Feststellung Paul Krugmans. Die törichten Vorstellungen der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, so der Kolumnist in der New York Times, nähme mit Sicherheit kaum jemand ernst, stünden sie nicht den Interessen der Reichen so nahe und würden sie von diesen über die einschlägigen Medien nicht systematisch im Gespräch gehalten.

Systematisch diskutiert werden in den Medien die zu hohen Steuer- und Abgabenbelastungen der Bürger und Unternehmen in Europa. In vielen Zeitungen des Kontinents erscheinen Tabellen, die ausweisen, wo die Steuern noch gesenkt werden müssen, damit sich das jeweilige Land im europäischen und internationalen Wettbewerb behaupten könne. So liefert die Presse jeden Tag Futter für die Reformer aller europäischen Länder und hält den Steuersenkungswettlauf in Gang.

Nun geschieht aber etwas Merkwürdiges: So wie die Globalisierung bei den Löhnen und Gehältern, so wirkt sich auch der Steuersenkungswettlauf für Arm und Reich unterschiedlich aus. Die Managergehälter steigen, die Arbeitnehmereinkommen stagnieren oder sinken, die Steuern der Reichen sinken, die Steuern und Abgaben des Volkes steigen. Wer wohlhabend ist, der wird vom internationalen Standortwettbewerb zum doppelten Glück geführt. Sein Einkommen steigt, und er selbst muss weniger Steuern zahlen. Bist du aber Arbeitnehmer oder Rentner*, dann hast du schlechte Karten. Dein Einkommen bleibt gleich, wenn es nicht gar sinkt, während die Lasten zunehmen. Könnte es sein, dass hier nicht wirtschaftliche Vernunft, sondern das bloße Interesse der Wohlhabenden die Feder führt? Vermögenssteuern, Unternehmenssteuern und Zinsertragssteuern gehen überall runter — nur die Lohnsteuern, Verbrauchssteuern und Sozialabgaben gehen überall rauf.

Die niedrigen Unternehmenssteuersätze in den neuen Mitgliedsstaaten aus Osteuropa haben die Debatte um das europäische Steuersystem erneut angefacht. Das Paradies für Kapitalgesellschaften ist Estland mit einem Körperschaftssteuersatz von null Prozent. Aber auch Lettland und Litauen mit jeweils 15 Prozent und Ungarn mit 16 Prozent gelten als sehr attraktiv. Viele Firmen drohen unter Verweis auf die niedrigen Löhne und Steuersätze dieser Länder mit der Verlagerung ihrer Betriebe. Die Politiker haben Angst, dass ihnen die Felle davonschwimmen, bekennen sich doch einige osteuropäische Länder unverhohlen zum Steuer-Dumping als Mittel der Wirtschaftsförderung. Nicht genug damit. Diejenigen, die mit Dumping-Steuersätzen den Steuersenkungswettlauf anheizen wollen, tun dies auch noch mit dem Geld aus der europäischen Kasse.

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Oskar Lafontaine, Politik für Alle, Berlin 2005, S. 217 f.
* Anmerkung von H. Wozniewski: ... oder kleiner Unternehmer ...