Globalisierung als faule Ausrede

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Aber die deutschen Ökonomen verordnen ihre Rezepte, wie wir inzwischen gelernt haben, bis der Patient stirbt. Der Hauptverband des deutschen Einzelhandels hat für das Jahr 2004 einen Umsatzrückgang von etwa zwei Milliarden Euro errechnet. Im Jahr davor war es ein Rückgang von drei Milliarden Euro, 2002 wurden fünf Milliarden Euro bilanziert. Ungefähr 4000 Handelsunternehmen meldeten im Jahr 2003 Insolvenz an, und knapp 30000 Geschäfte mussten aufgeben. Sie alle können sich bei den deutschen Eliten und den neoliberalen Reformern bedanken. Diese, man muss es leider sagen, können nicht bis drei zählen, wenn es um gesamtwirtschaftliche Fragen geht. Sonst wüssten sie, dass der Handel nur florieren kann, wenn die Leute Geld in den Taschen haben. Schon nicht mehr witzig ist es, wenn sowohl der ehemalige DIHT-Präsident Hans Peter Stihl wie sein Nachfolger Ludwig Georg Braun, die auch den Einzelhandel vertreten, Nullrunden fordern. Sie vertreten zwar so ihre eigenen Exportinteressen, schaden damit aber vielen Geschäften, die bei den Industrie- und Handelskammern Zwangsmitglied sind.

Als die neoliberale Reformwelle anrollte, hieß es nahezu täglich in der Presse: »Die deutschen Probleme sind hausgemacht.« Dieser Satz ist merkwürdigerweise aus der Öffentlichkeit verschwunden, obwohl er heute mehr zutrifft als jemals zuvor. Aber die deutschen Reformer haben eine wunderbare Ausrede, um sich das klägliche Scheitern ihrer Politik nicht eingestehen zu müssen: die Globalisierung.

Neben der Lohnzurückhaltung und der Riester-Rente wurde die Steuerreform 2000 zum Wundermittel für wirtschaftliches Wachstum hochgejubelt. Sie sei notwendig, so wurde behauptet, um neue Arbeitsplätze zu schaffen. Nichts davon war richtig. Statt Stellen zu schaffen, setzten die Shareholder-Value-Manager weiter ihre Mitarbeiter auf die Straße, um den Aktienkurs zu erhöhen. Schließlich profitieren sie über Aktienoptionen - wie wir wissen - von steigenden Kursen. Da bei dieser Reform unnötigerweise die Senkung des Spitzensteuersatzes fortgesetzt wurde, gerieten die öffentlichen Kassen immer stärker ins Minus. Die Folge war ein ständiger Rückgang der Infrastrukturinvestitionen, die für eine stetig wachsende Wirtschaft unverzichtbar sind. ...

Oskar Lafontaine, Politik für Alle, Berlin 2005, S. 223 f.