Die Linke spricht die Sprache der Rechten

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Obwohl die Produktivität der deutschen Beschäftigten seit Anfang der neunziger Jahre um mehr als 16 Prozent zugenommen hat, stiegen die Reallöhne im gleichen Zeitraum nicht. Nach Steuern und Abgaben hatten die Arbeitnehmer Ende 2003 nicht mehr im Geldbeutel als 1991. Das hindert den neoliberalen Gesangsverein nicht daran, mit Unterstützung der Medien zu behaupten, Deutschland sei ein Gewerkschaftsstaat. Nur die Blockierer unter den Funktionären des DGB und seiner Einzelgewerkschaften seien schuld am ökonomischen Niedergang des Landes. Dabei würde umgekehrt ein Schuh daraus. Den Gewerkschaften könnte man vorwerfen, dass sie zu schwach oder auch vielleicht nicht willens sind, Ludwig Erhards Maxime vom »Wohlstand für alle« durchzusetzen. Nicht vergessen dürfen wir, dass es der ehemalige IG-Metall-Vorsitzende Klaus Zwickel war, der 1995 Nullrunden angeboten hatte, um in den Zeiten der Regierung Helmut Kohls ein Bündnis für Arbeit zu gründen. Auch er, der Vorsitzende dieser großen Gewerkschaft, war dem neoliberalen Unsinn aufgesessen, Nullrunden bewegten die Unternehmer dazu, mehr Arbeitsplätze zu schaffen. Seit 1995 ist die Wirtschaft keines Landes in West- und Mitteleuropa so langsam gewachsen wie die deutsche. Ist das Zufall?

Der Vater des Wirtschaftswunders, Ludwig Erhard, wollte den Produktivitätsgewinn noch den Arbeitnehmern zukommen lassen, um den Konsum und damit das Wachstum und die Beschäftigung zu stärken. Diejenigen, die sich heute auf ihn berufen, wollen etwas ganz anderes. Sie haben Erhards Erbe längst verraten. Am Anfang seines Buches Wohlstand für alle schrieb der Wirtschaftsminister im ersten Kabinett Adenauers unmissverständlich: »Bevor ich das Wirtschaftsressort in der ersten westdeutschen Bundesregierung übernahm, legte ich auf dem CDU-Parteitag der britischen Zone Ende August 1948 in Recklinghausen dar, dass ich es für abwegig halte und mich deshalb auch weigere, die hergebrachten Vorstellungen der früheren Einkommensgliederung neu aufleben zu lassen. So wollte ich jeden Zweifel beseitigt wissen, dass ich die Verwirklichung einer Wirtschaftsverfassung anstrebe, die immer weitere und breitere Schichten unseres Volkes zu Wohlstand zu führen vermag. Am Ausgangspunkt stand der Wunsch, über eine breit geschichtete Massenkaufkraft die alte konservative soziale Struktur endgültig zu überwinden.

Diese überkommene Hierarchie war auf der einen Seite durch eine dünne Oberschicht, welche sich jeden Konsum leisten konnte, wie andererseits durch eine quantitativ sehr breite Unterschicht mit unzureichender Kaufkraft gekennzeichnet.«*

Diese Worte sind eindeutig. Erhards falsche Enkel wollen eine stärkere Differenzierung der Löhne und Einkommen. Das heißt: Sie wollen die überkommene Hierarchie, die Erhard überwinden wollte, wieder herstellen.

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Oskar Lafontaine, Politik für Alle, Berlin 2005, S. 57 f.
*Siehe auch Moderner Feudalismus in Deutschland, Einführung