Der Experte

Wenn in Talkshows die Parteien aneinander geraten oder Scheingefechte austragen, dann wird in wirtschaftlichen und sozialen Fragen oft ein Experte oder Sachverständiger gebeten, als Schiedsrichter tätig zu sein. Ein Angestellter einer Wirtschaftsberatungsfirma oder ein Unternehmer erklärt dann den Politikern und Fernsehzuschauern, wie »die Wirtschaft« die Frage beurteilt und beantwortet. Dabei ist das Arrangement oft so, dass der Experte über dem Parteienstreit steht und mit einer Art päpstlicher Unfehlbarkeit das Schlusswort spricht. Leider wird dabei oft übersehen, dass Unternehmer, wenn es um volkswirtschaftliche Fragen geht, vielfach schlechte Ratgeber sind.

Wenn ich so urteile, denke ich nicht an ihr direktes unternehmerisches Interesse, das sie in Fragen des Steuerrechts, der Lohnpolitik oder der Leistungen für Rentner, Kranke und Arbeitslose zu Befangenen macht. Ihr Ziel ist es, Gewinne zu erwirtschaften, auch wenn nicht das Geldverdienen, sondern das Schaffen von Arbeitsplätzen zum edlen Ziel des Unternehmers erklärt wird. Aber Unternehmer tappen wie kaum eine andere Gruppe der Bevölkerung bei der Beurteilung volkswirtschaftlicher und sozialer Fragen in eine Falle, die man Trugschluss der Verallgemeinerung nennt. In den Lehrbüchern der Logik heißt es dazu: Der Trugschluss der Verallgemeinerung besteht darin, dass man von der Gültigkeit einer Aussage für einen Teil auf die Gültigkeit dieser Aussage für das Ganze schließt. Der Unternehmer folgert oft nach dem Muster: Was für mein Unternehmen gut ist, ist auch für die ganze Volkswirtschaft richtig. Aber genau das ist falsch. Vielmehr ist es so, dass das, was für den einzelnen Betrieb ratsam ist, für die Volkswirtschaft als Ganzes noch lange nicht gilt.

Als Paradebeispiel gilt die Situation der Zuschauer im Theater. Der einzelne Besucher kann seine Sicht verbessern, indem er aufsteht. Weil ihnen die Sicht genommen wird, erheben sich dann auch die Zuschauer, die hinter ihm sitzen. Am Ende steht der ganze Saal. Keiner sieht mehr als vorher. Das Bestreben des Einzelnen, seine Lage zu verbessern, führt dazu, dass es am Ende allen schlechter geht.

Wenn ein Betrieb Löhne senkt und Leute entlässt, dann kann das in bestimmten Fällen eine Möglichkeit sein, das Überleben der Firma zu sichern. Wenn aber alle Betriebe Löhne senken und Leute entlassen, dann führt das direkt in eine wirtschaftliche und soziale Katastrophe. Ohne Tarifverträge und gesetzliche Mindestlöhne gäbe es einen verheerenden Wettlauf um niedrigere Löhne, bei dem am Ende alle die Verlierer wären — auch die schlauen Unternehmer, die sich mit Lohnkürzungen Kostenvorteile verschaffen wollten. Das gilt ebenso für die in Mode gekommenen betrieblichen Bündnisse für Arbeit.

Es ist akzeptabel, wenn einzelne Betriebe, die in wirkliche Schwierigkeiten geraten sind, solche Bündnisse schließen, um die Firma zu retten. Wenn die Bündnisse für Arbeit, wie im Jahr 2004, sich aber wie ein Flächenbrand ausbreiten, dann werden sie zu Bündnissen gegen Arbeit — und das Gejammer über die nicht anspringende Binnenkonjunktur wird kein Ende nehmen.

Für einzelne Ladenbesitzer ist es ein Vorteil, die Öffnungszeiten zu verlängern, um den Umsatz zu erhöhen. Ohne Ladenschlussgesetz bleibt den Konkurrenten nichts anderes übrig, als die Öffnungszeiten ebenfalls zu verlängern. Da die Verbrauchsausgaben der Bevölkerung begrenzt sind, müssen am Ende Geschäftsinhaber und ihre Angestellten länger arbeiten, ohne dass sie mehr Waren verkaufen. Die Trend gewordenen Lohnkürzungen passen zu längeren Ladenöffnungszeiten wie die Faust aufs Auge.

Wenn ein Betrieb Umweltauflagen missachtet, kann er Kosten sparen und seine Wettbewerbssituation verbessern. Wenn alle Betriebe sich so verhalten, entstehen Umweltbelastungen, die zu Fahrverboten oder Produktionsstillegungen führen können.

Die Beispiele zeigen: Einer muss dafür sorgen, dass im Theater der Wirtschaft nicht jemand aufsteht, um seine eigene Sicht zu verbessern, weil es ihm dann alle nachmachen — und es am Ende allen schlechter geht. Dieser eine ist der Staat, im Falle der Lohnfindung sind es die Tarifvertragsparteien. Leider haben die neoliberalen Heilsbringer diesen Zusammenhang bislang nicht verstanden. Sie sind gegen Ladenschlussgesetze, gegen Tarifverträge und gegen Umweltauflagen, weil sie sich die Freiheit bewahren wollen, sich wie der Theaterbesucher zu verhalten, der aufstehen will, um besser zu sehen. Mit anderen Worten: Ungeliebte Regeln schützen auch diejenigen Unternehmer, die in ihnen unnötigen Ballast und eine Erfindung des Teufels sehen.

Daher verkünden Unternehmer in Talkshows oft Rezepte, die für ihre Betriebe richtig, für die gesamte Volkswirtschaft aber schlicht falsch sind. Sitzen Roland Berger oder ein Vertreter von McKinsey in Fernsehrunden, dann denken sie immer an ihre Auftraggeber. Ihre Vorschläge sind in der Regel interessengeleitet und orientieren sich nicht am Gemeinwohl. Und die Wirtschaftsprofessoren in Deutschland, die in solchen Gesprächen ebenfalls gern die Rolle der letzten Instanz übernehmen, sind Anhänger der angebotsorientierten Wirtschaftspolitik, die nach Paul Krugman niemand ernst nehmen würde, stünde sie nicht den Interessen der Reichen so nahe. Der Nobelpreisträger für Volkswirtschaftslehre, der Rumäne Nicholas Georgescu-Roegen, nannte die Nationalökonomie einst die opportunistischste aller Wissenschaften. Die Reichen vergeben Aufträge, Gutachten, finanzieren Lehrstühle und entscheiden darüber, wer sich in welchem Aufsichtsrat ein Zubrot verdienen kann.

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Oskar Lafontaine, Politik für Alle, Berlin 2005, S. 73 ff.